Die Salutogenese (zur Wortherkunft vergleiche Genese) bedeutet soviel wie „Gesundheitsentstehung“ oder „Ursprung von Gesundheit“ und wurde von dem israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) in den 1970er Jahren als Gegenbegriff zur Pathogenese entwickelt. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit kein Zustand, sondern muss als Prozess verstanden werden.
Aron Antonovsky wertete 1970 eine Erhebung über die Adaptation von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen an die Menopause aus.
Eine Gruppe von ihnen war 1939 zwischen 16 und 25 Jahren alt gewesen und hatte sich zu dieser Zeit in einem national-sozialistischen Konzentrationslager befunden. Ihre emotionale Befindlichkeit wurde mit der einer Kontrollgruppe verglichen. Der Anteil der in ihrer Gesundheit nicht beeinträchtigten Frauen betrug in der Kontrollgruppe 51%, im Vergleich zu 29% der KZ-Überlebenden. Nicht der Unterschied an sich, sondern die Tatsache, dass in der Gruppe der KZ-Überlebenden 29% der Frauen trotz der unvorstellbaren Qualen eines Lagerlebens mit anschließendem Flüchtlingsdasein als (körperlich und psychisch ‚gesund’ beurteilt wurden, war für ihn ein unerwartetes Ergebnis.
Diese Beobachtung führte ihn zu der Frage, welche Eigenschaften und Ressourcen diesen Menschen geholfen hatten, unter den Bedingungen der KZ-Haft sowie in den Jahren danach ihre (körperliche und psychische) Gesundheit zu erhalten. So schuf Antonovsky (im Gegensatz zum Pathogenesekonzept der traditionellen Medizin) das Konzept der ‚Salutogenese’ – der Entstehung von Gesundheit
„Wie entsteht Gesundheit?“
Die Hauptthese von Antonovsky ist, dass das Kohärenzgefühl als Kern der Frage „Wie entsteht Gesundheit?“ gesehen werden muss.
„Das Kohärenzgefühl ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“
– Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. 1997, S. 36
Gesundheit und Krankheit sind für Antonovsky sowohl von Subjektivität geprägte Erlebnisse als auch von objektiven Faktoren bedingte Zustände, deren Ausprägung auf Gesundheits-Krankheits-Kontinuen gedacht werden kann. Ein solches Kontinuum könnte zum Beispiel zwischen den Polen des Funktionierens und Nicht-Funktionieren gespannt werden. Je mehr funktionierende Anteile ein Mensch enthält, desto wahrscheinlicher wird er sich auch gesund fühlen. Letzteres ist wiederum von anderen Eigenschaften abhängig, z. B. der Qualität des Kohärenzgefühls/Kohärenzsinnes. Jede/r kann theoretisch zu einem beliebigen Zeitpunkt auf einem Kontinuum lokalisiert werden und ist damit nicht entweder gesund oder krank, sondern mehr oder weniger gesund.
Antonovsky zieht aus der physikalischen Erkenntnis über Entropie und den allgemeinen Erfahrungen hierzu den Analogieschluss, dass auch ein lebender Organismus, der ja Zeit seines Lebens Energie freisetzt, permanent der Gefahr von Unordnung ausgesetzt ist und nicht nur gelegentlich oder in besonderen Situationen. Diese Auffassung steht im Gegensatz zum pathogenetischen Modell, das von der Homöostase (einem relativ konstantem Gleichgewicht, das durch unterschiedlichste Kontrollmechanismen und Regelkreise aufrecht erhalten wird) ausgeht. Bei dieser Auffassung besteht die Gefahr, dass in verkürzter Weise zurückgeschlossen wird, dass Gesundheit durch das Entfernen krankmachender Faktoren, die man als atomistische Teile verstehen kann, sozusagen garantiert sei. Das salutogenetische Modell ist dagegen der Idee der Heterostase verpflichtet, der Meinung, dass sich der Mensch wesentlich im Ungleichgewicht bewegt. Der fehlenden Garantie dieser Stabilität, die durch permanenten Energieaufwand gefährdet ist, setzt Antonovsky einen starken Kohärenzsinn entgegen, der als Energie-Regulativ so organisiert ist, dass innen und außen höhere Ordnung entsteht.
Ein weiterer Analogieschluss, den Antonovsky aus dieser Theorie zieht, besteht also darin, dass der Mensch wie auch alle lebenden Systeme entgegen dem Trend zur permanenten Erhöhung der Entropie ein höheres Ordnungs-/ Komplexitätsniveau erstrebe. Es verwundert nicht, wenn sich die Menschen mit der Annahme der salutogenetischen Philosophie schwer tun, denn Leben als Ausdruck höchster Ordnung ist als natürlicher Vorgang schon in sich eine (beinahe) unlogische, zumindest im Zuge der Entropieentwicklung nicht-lineare Erscheinung.
Salutogenese versus Pathogenese
In der Pathogenese wird das Krankheitssymptom (z.B. Kopfschmerz) beschrieben und „bekämpft“.
Nach Heinz Strauss wird in der Salutogenese nicht der Leidensweg einer Krankheit betont, sondern der Gesundheitsaspekt des Symptoms. Kopfschmerz ist in dieser Sicht ein somatisches Warnsignal. Der Körper macht darauf aufmerksam, dass etwas nicht in Ordnung ist. Die Verspannung ist danach nicht die Ursache, sondern auch nur ein Symptom. Als Auslöser ließe sich zum Beispiel Stress nennen. Damit ist aber immer noch nicht die Ursache gefunden. Diese ließe sich beispielsweise in einer psychologisch gesehenen rigiden (zwanghaften) Charakterstruktur finden.
Eine Metapher soll das näher erläutern. Dampf–Wasser–Eis beschreibt den gleichen Stoff in verschiedenen Aggregatzuständen. Die Moleküle befinden sich im losen–flexiblen–verhärteten Zueinander. Übersetzt in psychologische Zustandsbeschreibungen: psychotisch–flexibel–zwanghaft (anankastisch). Die Gegenpoligkeiten (Dampf und Eis) sind jeweils rigide Verhaltensstrukturen. Wegen des extremen Aggregatzustandes würde das Wasser (das Verhalten, die Verspannung) salopp gesagt, als solches nicht entsorgt, wie in der Pathogenese beispielsweise mit verspannungslösenden Kopfschmerztabletten.
In der Sichtweise der Salutogenese wird der Kopfschmerz als ein Hinweis verstanden, der eine Chance bietet, um zur flexiblen Mitte zurück zu gelangen. Rigiditäten können also Teil von zu heilenden psychischen Verhaltensstrukturen sein, an denen Helfer anknüpfen können. Wird der Kopfschmerz jedoch durch ein Medikament aufgehoben, ist kein Signal (Hinweis) mehr zur Heilung gegeben. Bildlich ausgedrückt: Statt das Feuer zu bekämpfen, wurde der Brandmelder abgeschaltet.
In der Salutogenese wird also der Hauptmerk auf den „Gesundungsweg“ gelegt, zu dem Symptome Hinweise geben können. Damit kann ggfs. sogar eine Stärkung der Ressourcen erreicht werden, mit denen sich der Mensch auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum mehr in Richtung Gesundheit bewegen kann.
Kritik
Antonovsky sieht dieses Gefühl, das direkt übersetzt Kohärenzsinn (sense of coherence) heißt, als eine von außen bedingte, bis zu einem Alter von ca. 25 Jahren weitgehend abgeschlossen entwickelte Disposition an. Diese Meinung ist inzwischen weitgehend widerlegt worden. Erstens ist eine Veränderung und Entwicklung des Kohärenzgefühls demnach in jedem Lebensalter möglich. Zweitens entwickelt sich der Kohärenzsinn weniger von außen, sondern steht in einem engen Zusammenhang mit Merkmalen der Persönlichkeit, die entweder angelegt sind oder gezielt gefördert werden können.
Weitere Kritikpunkte sind, dass es sich bei Antonovskys Kohärenzgefühl "lediglich um ein inverses Maß für negative Affektivität" handeln könnte, und sich nicht zuletzt "auch eine klare Abgrenzung des Kohärenzgefühls von anderen inhaltlich verwandten Konstrukten, wie Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung, Optimismus, Hardiness oder Resilienz als schwierig" erweise. [2] (siehe Kontrollüberzeugung, Selbstwirksamkeitserwartung, Optimismus, Hardiness, Resilienz)
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