Angewandte Kinesiologie
Die angewandte Kinesiologie wurde, Ende der 60er Jahre, konzipiert von dem amerikanischen Arzt und Physiotherapeuten Goodheart [1,36]. Er glaubte entdeckt zu haben, dass bei bestimmten Organerkrankungen spezielle Muskeln geschwächt erscheinen. Als Anhänger der Vorstellungen der traditionellen chinesischen Medizin sah er sich bestätigt durch die Tatsache, dass er auch bei einer konstatierten Energieschwäche in einem Meridian solche Muskelschwächungen fand: War dagegen der Energiefluss im Gleichgewicht, so waren auch die Muskeln stark. Er schloss daraus, dass die Kraft eines Muskels Aussagen zulässt über den Gesundheitszustand des Organs in der zugehörigen Reflexzone. Aus diesen Vorstellungen entwickelten sich neben diagnostischen vor allem therapeutische Verfahren, die nicht nur bei organischen, sondern auch bei mentalen und psychischen Störungen Anwendung finden, auch unter Einbeziehung psychologischer und psychotherapeutischer Techniken.
Die Diagnose erfolgt am geeignet gelagerten Patienten durch manuelle Prüfung der Stärke des relevanten Muskels. Eine Variante nutzt den Widerstand eines ausgestreckten Armes oder eines angehobenen Beines des Patienten gegen den Handdruck des Behandlers, wenn dieser mit seiner anderen Hand die Regio des zu untersuchenden Organs berührt.

Lässt der Widerstand des Armes oder des Beines dabei nach, so wird das Organ als in seiner Funktion beeinträchtigt beurteilt. Analog wird auch die Wirkung von Medikamenten, Schadstoffen oder Nahrungsmitteln getestet: Dazu wird die Testsubstanz in die Regio des Organs gebracht oder einfach dem Patienten in die Hand gegeben, wo sie dann, wie beim Substanzen-Test der Elektroakupunktur, durch Resonanz mit dem bioenergetischen Feld des Patienten in eine störende, und damit Muskel schwächende, oder in eine harmonische, also Muskel stärkende Resonanz treten soll. Beim sogenannten Armlängentest, auch als Physioenergetik nach von Assche bezeichnet, streckt der auf dem Rücken liegende Patient seine Arme über den Kopf nach hinten, so dass die Hände exakt nebeneinander liegen [17]. Um zu testen, ob ein bestimmtes Organ belastet ist, wird dessen Regio kräftig gedrückt. Im Falle einer Belastung soll sich der Körper einseitig reflektorisch verkrampfen, so dass der entsprechende Arm verkürzt erscheint. Wird dann ein geeignetes Medikament in die getestete Regio gebracht, so soll bei erneutem Druck die Verkrampfung unterbleiben, da das Negativfeld des geschädigten Organs nun vom Positivfeld des Medikamentes kompensiert wird. Diesem Verfahren wird insbesondere bei der Testung homöopathisch aufbereiteter Substanzen eine höhere Spezifität zugesprochen als dem EAV-Substanzentest.

Bei der Kinesiologie wird die bei den diversen bioelektronischen Verfahren erforderliche elektrotechnische Registrierung der Substanzwirkungen durch das taktile Gespür des Behandlers ersetzt. Das ist angesichts der beträchtlichen Preise der Elektroakupunktur- und Bioresonanzgeräte ein erwähnenswerter Beitrag zur Kostendämpfung zumindest bei den Anwendern.

Die Therapie bei den kinesiologischen Verfahren erfolgt durch Massagen bestimmter Reaktionspunkte des fraglichen Organs (Touch for Health), durch Bewegungsübungen, insbesondere auch zum Stressabbau, sowie durch die Verabreichung kinesiologisch ausgetesteter Medikamente und/oder Diäten.

Anmerkungen aus physikalischer Sicht:
Dass Erkrankungen zu Muskelschwächen führen können, ist trivial. Dagegen erscheint die Behauptung, dass generell spezifische Wechselwirkungen zwischen einzelnen Organen und entsprechenden Muskeln bestehen, vor dem Hintergrund ihrer Begründung mit Vorstellungen aus der traditionellen chinesischen Medizin mehr als fraglich; diese Wechselwirkungen waren zudem in kontrollierten Studien zur Überprüfung dieser Hypothese nicht zu belegen [36].

Physikalisch unsinnig dagegen ist die behauptete Substanztestung über Resonanzphänomene mit einem bioenergetischen Feld des Patienten. Selbst wenn man die Existenz spezifischer elektomagnetischer Felder bei Substanzen, Gegenständen und biologischen Organismen unterstellt (wir alle strahlen im Infrarot!), wäre die behauptete Wechselwirkung wegen der optischen Dichte im Inneren der Organismen nicht möglich, wie bereits ausgeführt.

Fazit: Wenn man der angewandten Kinesiologie im Bereich der Therapie zumindest noch Plausibilität und in speziellen Bereichen, etwa Massagen, auch Wirksamkeit zubilligen kann, so sind die diagnostischen Verfahren zur Substanztestung a priori irrational.

Prof. Dr. rer. nat. Hermann Meiners
Zentrum für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde
Universität Münster
D-48129 Münster